Interview mit Dave McKean: RAPTOR



Wir haben ein Interview mit Dave McKean geführt - sein neuer Comic RAPTOR ist nun erhältlich! Es ist ein visuelles Meisterwerk auf den Schwingen eines Raubvogels!

Künstler und Autor Dave McKean (Black Dog, The Sandman) liefert mit RAPTOR einen weiteren Creator-Owned-Comic nach CAGES aus den späten 90ern. Der Gewinner des World Fantasy-, Harvey-, British Science Fiction Association- und V+A Book Award besticht mit der gekonnten Fusion aus ätherischer Story und unnachahmlichem Artwork visueller Meisterklasse.

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Interview mit Dave McKean
 
1) Lieber Dave, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, mit uns über deine neue Graphic Novel RAPTOR zu sprechen. Bevor wir in dein neues Werk eintauchen, würde ich gerne deinen Einstieg in die Comic- und Medienbranche erfragen. Wie bist du zum ersten Mal mit Comics in Berührung gekommen, und was hat dich an diesem Medium und seinen erzählerischen Möglichkeiten fasziniert? Wie und wann hast du begonnen, dich einer Karriere in diesem Bereich zu widmen?
 
Ich habe Comics schon als Kind geliebt, und während meines Kunststudiums habe ich die Einflüsse und Medien, die ich in meine Geschichten integrierte, immer mehr ausgeweitet. Meine studentischen Arbeiten wurden von Redakteur:innen entdeckt, die eine neue Anthologie namens Borderline ins Leben rufen wollten. Dort lernte ich Neil Gaiman kennen, und wir begannen, gemeinsam an einer Novelle namens Violent Cases zu arbeiten, die unser erstes veröffentlichtes Comic-Projekt werden sollte.
Ich wollte Comics aus der isolierten Welt der Fachgeschäfte und Fan-Nische herausholen und in die breitere Kultur einführen. Ich wollte Geschichten erfinden, die nicht an ein bestimmtes Genre gebunden sind und eine visuelle Sprache sprechen, die näher am Film, am guten Fernsehen und an den Illustrationen und der Kunst, die man auf Platten- und Buchcovern findet,  sind.
Ich mochte die intime Art des Comic-Erzählens, nicht die Comicstrips mit Kinderabenteuern, die das Medium dominierten. Ich mochte diese geflüsterte Stimme von Autor:innen im Kopf, während man die Worte liest – die Andeutung von Bewegung in statischen Bildern und die Aufforderung an die Leserschaft, kreativ zu sein, den Ton, die Bewegung und die Verbindungen zwischen den Bildern selbst hinzuzufügen. Ich hatte das Gefühl, dass dieses Medium ein riesiges ungenutztes Potenzial bietet, sehr persönliche Geschichten auf eine interessante neue Weise zu erzählen.
 
2) Du hast mit einigen der renommiertesten Künstler:innen der Branche zusammengearbeitet – unter anderem mit Neil Gaiman und Grant Morrision. Was hast du von deinen Ko-Schöpfern über die Gestaltung einer Geschichte gelernt, das dir über die Jahre beim Schreiben deiner eigenen Szenarien wie BLACK DOG und nun auch RAPTOR geholfen hat?
 
Ehrlich gesagt … nicht viel, da wir sehr unterschiedliche Geschmäcker und Wege haben, die Geschichten zu erzählen, an denen wir interessiert sind. Das heißt aber nicht, dass ich nicht viel von anderen Autor:innen gelernt habe. Ich habe als Erwachsener angefangen, Comics zu lesen, weil Alan Moore es geschafft hat, jeder Szene eine eigene Identität zu geben – sei es durch die Art des Dialogs, die Bewegung des Blickwinkels oder den Rhythmus der Panels.
Von Paul Auster und Filmemacher:innen wie Ildiko Enyedi oder David Lynch habe ich viel darüber gelernt, dass es Momente geben kann, in denen das Unmögliche passiert und wir dazu aufgefordert werden, selbst darüber nachzudenken: „Ist das hier die Wahrheit?“ Ich habe viel von Autoren großartiger Dialoge wie Tom Stoppard, Michael Frayn und Woody Allen gelernt und ich denke, alle Schriftsteller:innen sollten die Erfahrung machen, ihre Worte von Schauspieler:innen gesprochen zu hören. Es ist eine ernüchternde Erfahrung und gibt einem einen umfassenden Einblick in die Art und Weise, wie Menschen tatsächlich sprechen. Ich habe viel von großen Prosaautoren wie Salman Rushdie und Martin Amis gelernt – von Schriftsteller:innen, die bemüht sind, ihr Werk von Klischees zu befreien .
Und kürzlich wurde ich für RAPTOR von der außerordentlichen Fülle neuer Naturschriftsteller wie Robert Macfalane, J. A. Baker und Horatio Clare inspiriert und ihrer Ausgrabung der Sprache der Natur und der Naturphänomene – zum Teil aus purer Freude an ihrer Schönheit, aber auch als politischer Akt, um zu beweisen, dass Gebiete am Rande der Landschaft nicht nur graues Gestrüpp sind, das reif für eine Entwicklung wäre, sondern voller Lebenszyklen, die für uns von wesentlicher Bedeutung sind.
 
3) Da BLACK DOG leider nie in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, werden viele Leser:innen es erst jetzt entdecken, nachdem sie Cross Cults deutschsprachige Ausgabe von RAPTOR gelesen haben.
Könntest du uns ein wenig über dieses spezielle Projekt erzählen? In welcher Verbindung standest du zu der Person und der Kunst von Paul Nash, und warum wolltest du seine Geschichte erzählen?
 
Die Stiftung 14-18Now bat mich, eine Idee zum Thema „Erster Weltkrieg“ für ihre vierjährige Vorschlagsliste von Kunstkommissionen einzureichen. Ich dachte sofort daran, dass ich das Thema gerne durch die Augen einer Person erkunden würde. Vielen Soldaten fiel es nach ihrer Rückkehr nach England schwer, über ihre Erlebnisse zu sprechen, doch das Interessante an kreativen Menschen ist, dass sich ihre Erfahrungen in ihre Werke einbrennen.
Meiner Meinung nach hat Paul Nash in seinen Gemälden und Zeichnungen aus den Schützengräben den Wahnsinn und die Brutalität des Krieges am stärksten zum Ausdruck gebracht. Ich kannte seine Arbeit ein wenig, da er eine so zentrale Figur der britischen Kunst darstellt. Aber je mehr ich über ihn las und sein Werk erforschte, desto mehr Verbindungen schienen sich zu ergeben. Wir sind in unmittelbarer Nähe zueinander geboren sowie aufgewachsen und lebten nah beieinander. Da er im Wesentlichen ein Landschaftsmaler ist, kannte ich die Elemente seiner Traumlandschaften also sehr gut. Er hat seine Mutter verloren, als er jung war – ich habe meinen Vater verloren. Er war durch seine Arbeit politisch fokussiert, und obwohl ich das Glück hatte, die Schrecken des Krieges nie erleben zu müssen, wurde ich durch meine Arbeit auch politisch geprägt und landete auf einem ähnlichen zentristischen, sozialistischen Standpunkt.
 Da es bereits viele Biografien über Nash gab, beschloss ich, etwas Fantasievolleres zu erschaffen: eine Sammlung von Träumen, die sein Werk widerspiegeln und Momente aus seiner Kindheit, seinem jungen Erwachsenenalter, seinem Arbeitsleben und vor allem seinen Kriegserfahrungen mit dem surrealen und expressionistischen Ton seiner Gemälde verbinden sollten. Auf diese Weise konnte ich ihm indirekt Fragen stellen und mir seine Antworten vorstellen. Ich las seine unvollendete Biografie und sein Buch mit Briefen an Freunde und seine Frau, und ich glaube, ich lernte seinen Tonfall kennen. Dabei erfuhr ich etwas darüber, warum er so malte, wie er malte, warum er aufhörte, Menschen zu zeichnen, und warum sich seine Arbeit im Ton von dem seines Bruders John unterschied. Es lag immer ein Schatten über Pauls Werken: die Angst vor Depressionen – eben jene Krankheit, die das Leben ihrer Mutter forderte.
 
4) Wie bist du auf die Idee zu RAPTOR und seinen beiden Protagonisten Sokól und Arthur gekommen?
 
Ich führe Notizbücher und skizziere Ideen für Geschichten und Beobachtungen, aus denen sich später etwas entwickeln könnte. Irgendwann verbinden sich einige dieser Notizen und ein ganzes Projekt entwickelt sich. Ich wollte etwas über den aktuellen Stand der Politik schreiben, und das aus einem symbolischen Blickwinkel heraus. Ich wollte etwas über die Naturwelt schreiben und diese Sprache erforschen.
Und ich interessierte mich für einen walisischen Krimiautor namens Arthur Machen, der seine junge Frau an Krebs verlor und in seiner Trauer mit dem Okkulten liebäugelte, um die Grenzen unserer Welt zu überwinden und, so empfand ich, seine Frau möglicherweise wiederzusehen. Ich fand diese Idee sehr bewegend, und so begannen sich diese Elemente zu verflechten, wobei die realen und die fantastischen Teile der Geschichte parallel liefen, sich dann berührten und gegenseitig kommentierten.
 
5) Hattest du bei der Arbeit an RAPTOR bestimmte Künstler:innen und Kunstepochen als Referenz im Sinn? Der künstlerische Stil der Teile mit Arthur erinnerte mich an Otto Dix und die Künstler:innen der „Neuen Sachlichkeit“.
Hast du beispielsweise die verschiedenen Kunststile für bestimmte Abschnitte und Kapitel bewusst ausgewählt, oder ist das etwas, das unbewusst und organisch während der Arbeit an dem Comic passierte?
 
Ich verehre das frühe 20. Jahrhundert mit all seinen Kunstströmungen, den Anfängen des Comics, des Films, des Jazz, des Modernismus – all jene Dinge, die ich liebe.
Die damals entstandenen Werke wirken so lebendig, weil die Zeiten, in denen sie entstanden sind, sich so erdbebenartig gestalteten. Die Ideale des Expressionismus – zu zeigen, was das Subjekt denkt und fühlt, sowie wie es oberflächlich aussieht – stehen im Mittelpunkt dessen, was ich mit meinen Zeichnungen anstrebe.
 
6) RAPTOR beschäftigt sich mit der Natur von Trauer und Verlust. War es für dich eine Herausforderung, Bilder und Worte für ein so extremes und intensives Gefühl wie Trauer zu finden? Wie hast du dich diesem Thema genähert?
 
Es ist ein Thema, das mich schon immer fasziniert hat. Wahrscheinlich, weil ich immer gespürt habe, dass der Schatten vom Ende des Lebens über allem liegt.
Und das kann eine enorme Motivation sein, weiterzumachen und Dinge zu erschaffen, zu erforschen, zu reisen, das Beste aus der Zeit zu machen, die wir haben. Das Buch Signal to Noise, das ich zusammen mit Neil geschrieben habe, brachte eine Frage auf den Punkt, die ich mir schon immer gestellt habe: Was können wir tun, um das Beste aus der Zeit zu machen, die uns noch bleibt?
Wann immer ich von einem verkürzten Leben höre oder von der Unvermeidlichkeit, dass das Leben zu Ende geht, fühle ich mich zu diesen Geschichten hingezogen, weil sie mir so zutiefst wichtig erscheinen.
 
7) Woran arbeitest du derzeit? Hast du Pläne für weitere Comic-Projekte in der nahen Zukunft?
 
Ja, ich arbeite schon seit Jahren an einer Neuinterpretation von Das Kabinett des Dr. Caligari und das würde ich gerne vorantreiben. Es gibt noch ein paar andere Geschichten, an denen ich gerne arbeiten würde, aber der Schaffensprozess dieser Werke nimmt viel Zeit in Anspruch, und es scheint immer schwieriger zu werden, die Energie aufzubringen, die man benötigt, um sich so viel Zeit für eine Sache zu nehmen. Nächstes Jahr möchte ich an einem Gemeinschaftsprojekt arbeiten, und es gibt immer wieder verlockende Ideen, die ich gerne umsetzen würde.

von Filip Kolek

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