Eiko Kadono ist eine japanische Kinderbuchautorin und wurde 2018 mit dem Hans Christian Andersen Preis ausgezeichnet. Kadono studierte Englisch an der Waseda-Universität. Sie ging 1959 nach dem Studium für zwei Jahre nach Brasilien. 1985 begann sie mit der Arbeit an dem Roman „Kikis kleiner Lieferservice“. Dank der gleichnamigen Verfilmung von Hayao Miyazaki im Jahr 1989 wurde Kikis kleiner Lieferservice zu einem weltweiten Erfolg. Ihre Werke wurden unter anderem ins Englische, Französische, Koreanische, Italienische und Chinesische übersetzt.
Interview mit Eiko Kadono
Im Rahmen der Veröffentlichung des zweiten Bandes von KIKIS KLEINER LIEFERSERVICE hat uns Eiko Kadono ein Paar fragen beantwortet, worüber wir uns sehr freuen.
1. Wie sind Sie zum Schreiben gekommen und wo haben Sie schriftstellerisch Ihre ersten Schritte gemacht
Kadono: „Brasilien und mein Freund Luizinho“ war mein erstes Buch. Nachdem ich nach Brasilien gezogen war, begegnete ich in meinem Wohnhaus einem Mann namens Luizinho (der eigentlich Luis Carlos Diaz hieß). Durch ihn hat sich mein Leben in Brasilien von Grund auf verändert. Er brachte mir im Alltag Portugiesisch bei, indem wir zum Beispiel zusammen einkaufen gingen und Samba-Lieder sangen. Dank ihm lernte ich die brasilianische Küche, das Leben der Menschen und den entspannten Charakter des Landes kennen. Nach meiner Rückkehr nach Japan schrieb ich über meine Zeit mit Luizinho und seiner Familie. Zuerst dachte ich, ich kann nicht schreiben, aber als ich damit anfing, bemerkte ich, dass mir das Schreiben Spaß machte. Ich wollte mein Leben lang schreiben – unabhängig davon, ob ich eine Autorin sein würde.
2. Welche Autoren waren wichtig für Ihre literarische Sozialisation und haben Sie in Ihrer Jugend beeinflusst
Kadono: Während des Krieges, also zwischen meinem sechsten und zehnten Lebensjahr, waren kaum Kinderbücher verfügbar. Es gab nur wenige Werke wie „Illustrierte Märchen Japans“, „Andersens gekürzte Märchen“ und „Grimms Märchen“. Als ich zehn Jahre alt war und der Krieg geendet hatte, eroberten die bisher verbotenen europäischen und amerikanischen Bücher, Filme und Musikstücke Japan im Sturm. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich nicht die Freiheit zu lesen, was ich wollte, und so stürzte ich mich voller Begeisterung auf alles, was ich zwischen die Finger bekam. Vieles wurde ins Japanische übertragen, und ich war fasziniert davon, auf welche Weise Wörter benutzt wurden, wie die Geschichten aufgebaut waren und wie klar Charaktere porträtiert wurden. In der japanischen Literatur werden manchmal Bedeutungen durch Vagheit verhüllt. Ich denke, die Menschen Japans empfinden das als schön.
Damals las ich Bücher wie „Vom Winde verweht“, „Little Women“ und „Daddy Langbein“, um ein paar zu nennen. Während ich diese Bücher las, dachte ich zunehmend daran, Literatur in der Originalsprache zu lesen. Zuerst las ich eine Gedichtsammlung von Edgar Allen Poe, Gedichte von Emily Dickinson (mich interessierte vor allem ihr Leben) und einige Werke von Somerset Maugham. Als ich schließlich Anglistik an der Universität studierte, beschäftigte ich mich eingehend mit amerikanischer Literatur, zum Beispiel J.D. Salinger und Truman Capote. Von den Werken von Carson McCullers war ich besonders angetan, wegen ihrer Feinheit, der sanften Darstellungen der Charaktere und des verblüffenden Talents der Autorin. Ich wählte „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ als Thema für meine Abschlussarbeit aus.
3. Gab es für die Stadt Koriko ein Vorbild?
Kadono: Es diente keine konkrete Stadt als Vorlage. Während meines ersten Studienjahres sah ich in der amerikanischen Zeitschrift „Life“ eine Schwarz-Weiß-Fotografie von New York aus der Vogelperspektive. Und als ich zwanzig Jahre später eine Zeichnung meiner zwölfjährigen Tochter entdeckte, auf der eine Hexe einen Besen mit Radio ritt, fügte ich beide Bilder gedanklich zusammen. Dies wurde zu meiner Inspiration für die Geschichte.
4. Welche Figur liegt Ihnen neben Kiki besonders am Herzen?
Kadono: Ich liebe sie alle. Aber in meinem Buch kommen viele Charaktere vor. Deshalb möchte ich jeden darum bitten, unbedingt das Original zu lesen und den charmanten Charakteren zu begegnen, ohne den Film zur Beurteilung heranzuziehen.
5. Wie viel haben Sie mit Kiki gemein?
Kadono: Viele meiner Erfahrungen sind in meine Bücher eingeflossen. Bevor die Hauptfigur Kiki zu ihrer Reise aufbricht, sagt sie: „Ich bin so aufgeregt, als würde ich ein Geschenk aufmachen!“ Das entspricht genau meiner Persönlichkeit. So habe ich mich auch gefühlt, als ich nach Brasilien aufbrach.
6. Wie kommen Sie auf die Ideen für die vielen Wortspiele mit den Namen und Lautmalereien?
Kadono: Meine Lautmalereien wurden durch meinen Vater stark beeinflusst. Er war sehr talentiert darin, sich witzige Wörter auszudenken. In Brasilien klangen die Worte der anderen für mich stets wie Lautmalerei. Meine Worte klangen für sie ebenfalls wie Lautmalerei. Ich finde, der Rhythmus einer Sprache ist das, was Kommunikation per Lautmalerei so spaßig macht. Rhythmus ist eine weltweit gesprochene Sprache.
7. In Europa wird in der Literatur eine Hexe meistens als eine (alte) Frau dargestellt, die Magie beherrscht dank alter Bücher, Zauberformeln, Zaubergetränke und Gifte. Und sie bewegt sich natürlich auf einen Besen. Es gibt in der Literatur Beispiele von guten und bösen Hexen, aber meistens sind sie böse. Das ist Kiki – bis auf den Besen und die schwarze Katze – nicht. Was bezeichnet in Japan eine Hexe und welche Elemente aus beiden Kulturen haben Sie für Kiki genommen?
Kadono: Ich denke, dass Hexen aus den Wünschen der damaligen Menschen heraus geboren wurden, insbesondere der Mütter. Früher lebten die Menschen unter harten Bedingungen und mussten ständig um ihr Leben fürchten. Es war und ist auch heute noch ein wichtiges Anliegen der Mütter, ihre eigene Familie zu beschützen. Vermutlich begannen Hexen aufgrund dieses Gefühls zu existieren. Sie stellten sich eine für Menschen unsichtbare Welt vor, spürten die Energie, die sich dort befindet, und übernahmen sie in ihr Leben. Ich denke, dass dies zum Kräutersammeln geführt hat und schließlich auch zu dem, was man „mystische Kräfte“ oder „Magie“ nennt. Hexen befinden sich an der Grenze zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt und fungieren als ihr Bindeglied, denke ich.
Außerdem ist die japanische Denkweise nicht darauf ausgerichtet, Dinge in zwei Kategorien zu unterteilen. In der westlichen Welt unterscheidet man zwischen Licht und Finsternis und Gut und Böse und versucht, aus diesen Bedeutungen Schlüsse zu ziehen. Für uns Japaner besitzt alles ein Leben – zum Beispiel die Teeschale, die täglich benutzt wird, der Baum am Straßenrand oder die zerrissene Jeans. In meiner Kindheit brachten meine Eltern mir bei, mich bei meinen Socken zu bedanken und mich zu verabschieden, wenn ich sie nicht mehr tragen konnte und wegwerfen musste. Auch heute noch murmele ich jene Worte, wenn ich Dinge wegschmeiße.
Kiki ist eine Figur aus alten westlichen Geschichten, aber sie besitzt die japanische Empfindsamkeit. Darum transportiert sie Gegenstände stets mit Vorsicht. So wird sie auch reifer, während sie ihren Horizont erweitert.
8. Die Tatsache, dass Kiki schon mit 13 ihre Familie verlassen muss, kann manche Familien ein bisschen verwirren. Mit 13 sind vielen Kinder noch überhaupt nicht bereit allein zu leben. Warum haben Sie sich für dieses Alter entschieden?
Kadono: Mit 13 Jahren allein zu leben, ist in der Tat vielleicht etwas früh. Aber in gewisser Weise gibt es mit 13 Jahren mehr zu entdecken, als wenn man auf eigenen Füßen steht und bereits einiges im Leben passiert ist. Ich fand, das würde die Geschichte umso interessanter machen. Diese Altersgruppe befindet sich zwischen Erwachsenenalter und Kindheit. Selbst ich habe diese Erfahrung gemacht: Kaum hat man großspurig behauptet, man sei „schon erwachsen“, sagt man als Nächstes irgendetwas Unsinniges, wie ein Kind eben. Ich dachte, dass man gerade in so einem Alter durch unerwartete Ereignisse viele Dinge lernen kann. Das ist eine fiktive Geschichte, darum schickte ich Kiki auf diese Reise, die sie in der realen Welt zu früh antreten würde.
9. Haben Sie schon beim ersten Band von Kiki daran gedacht, die Geschichte für mehrere Bände fortzusetzen?
Kadono: „Kikis kleiner Lieferservice“ besteht aus sechs Bänden, die alle Kikis Geschichte folgen. Es gibt außerdem drei Spin-off-Bände.
Am Ende des ersten Bandes kehrt Kiki in ihre Heimat zurück, danach wieder in die Stadt Koriko. Eigentlich sollte die Geschichte dort enden, doch dann meldeten sich viele Leserinnen und Leser, die eine Fortsetzung lesen wollten. Auch ich wollte schreiben, wie sich Kiki entwickelt, und so habe ich die Geschichte bis zum sechsten Band weitergeführt. Insgeheim dachte ich aber: „Warum können nicht auch Jungen Hexen sein?“ Dieser Gedanke kam mir bereits, als ich mit der Arbeit am ersten Band begann. Ich dachte, wenn Kiki Zwillinge (einen Jungen und ein Mädchen) bekäme, würde ich eine Antwort finden. Also beschloss ich, Kiki heiraten und Kinder bekommen zu lassen und setze meine Geschichte mit dieser Idee fort. Wenn eine Geschichte keinen interessanten Inhalt bietet, macht es keinen Sinn, sie zu schreiben. Aber Kiki wird reifer und während dieser Zeit sollte ja so einiges passieren. Sie wird Liebeskummer erfahren und sich in schwierigen Lebenslagen auch mal selbst aus den Augen verlieren. Ich wollte aus Kikis Jugend eine interessante Geschichte zaubern, bei der jeder mitfühlen kann. Mit diesen Gedanken führte ich Kikis Geschichte fort. Und ich fand meine Antwort: „Jeder besitzt eine Form von Magie.“ Jeder besitzt Magie, selbst wenn man nicht auf einem Besen durch die Luft fliegen kann. Auch Kikis Sohn Toto, der auf seinem Abenteuer in Schwierigkeiten gerät, wird sich dessen bewusst.
10. Die deutschen Leser mussten lange warten, bis sie endlich Kiki auf Deutsch lesen können. Nun können wir die Fans des Ghibli-Films ansprechen, die vielleicht älter sind, und Kinder, ansprechen, die die wahre Zielgruppe der Bücher. Was würden sie zu diesen zwei Gruppen von Lesern sagen?
Kadono: Zunächst muss ich sagen, dass sich Buch und Film voneinander unterscheiden. Bitte lest das Original und erfreut euch an eurer eigenen Version von Kikis Welt. Die meisten haben zuerst den Film gesehen und dann das Buch gelesen. Es gibt für euch sicherlich viel Neues zu entdecken, also schaut auch gerne in das Original rein!
Kadono-sensei, wir bedanken uns noch mal herzlich für Ihre Zeit und Ihre Antworten.